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Der 8. Kreuzzug - Ein Studer-Heiri-Buch

Heiri will nur etwas Spass. Eine gute Übung für einen Agenten der
Eidgenossenschaft auf einem realen Schlachtfeld. Wer konnte dagegen
etwas einwenden – vor allem weil es ja um hilflose Frauen und Kinder
geht. Heiri schiesst und schlägt um sich. Jetzt sind es die Polizisten, die
plötzlich um ihr Leben rennen. Als sich Heiri nach der Frau bücken will,
um ihr beim Aufstehen zu helfen, sieht er erst, dass sie kaum mehr
atmet. Er schnappt sich einige der herumliegenden Flaschen und giesst
ihr Wasser übers Gesicht. Langsam kommt sie zu Bewusstsein und
reicht ihm instinktiv die Hand. Sie hat noch immer grosse Mühe beim
Atmen. Spontan nimmt Heiri sie in seine Arme und küsst sie.

Der erste Wasserstrahl erwischt ihn an den Beinen, dem zweiten weicht
er aus und den dritten sieht er knapp an sich vorbeischiessen. Heiri hat
die Frau geschultert und rennt los. Wo die Kinder geblieben sind, ist
unklar. Heiri sieht sie nicht mehr. Wahrscheinlich haben sie sich im
Durcheinander aus dem Staub gemacht und sich in Sicherheit gebracht.
Heiri sieht vor sich ein Gebäude, dessen Eingangstür ihm keinen allzu
soliden Eindruck macht. Er schlägt mit dem Bein dagegen und das
Schloss springt auf. Anschliessend schliesst er sie, indem er einige
schwere Kisten, die im Flur stehen, davorschiebt. Heiri öffnet die Tür
auf der Rückseite des Gebäudes, schliesst sie, nachdem er den Schlüssel
gezogen hat, und rennt mit der Frau weiter.

Die Altstadt von Istanbul fällt auf dieser Seite dem Halic zu. Das
Goldene Horn glänzt matt aus einem Tränengasnebel, der in Form einer
Wolke bedrohlich über der Stadt hängt. Heiri nimmt die sieben
Kilometer lange Bucht, die den europäischen Teil der Stadt in einen
südlichen und nördlichen Bereich teilt, wie einen von Konflikten
unberührten Flecken Erde wahr. Es ist zwar nicht das Paradies. Aber
die in den Hang gebauten Wohnviertel bieten einen guten Schutz und
erst noch eine fantastische Aussicht. Plötzlich hört Heiri Rufe.
Menschen winken ihn heran. Die Frau, die noch immer benommen in
seinen Armen liegt, und nur unregelmässig atmet, nickt. Heiri übergibt
sie der Fürsorge der Menschen, die rasch die Tür hinter sich schliessen.
Heiri steigt den Hang hoch. Er hört Sirenen, Schreie und dumpfe
Schläge. Schneller als erwartet befindet er sich wieder auf dem
Schlachtfeld.

Die Strasse ist zu eng, dass zwei Wasserwerfer nebeneinander fahren
könnten. Heiri greift die Polizisten von hinten an, schlägt sie mit
Füssen und Fäusten, schnappt sich ihre Waffen und rennt auf den
Wasserwerfer los, der wie ein Rieseninsekt durch die enge Gasse fährt.
Aus vollem Lauf schiesst er mehrere Plastikgeschosse ab und trifft die
Polizisten, die den Panzer eskortieren. Dem Wasser weicht er geschickt
aus. Heiri weiss, wie Panzer funktionieren. Er hat auf dem Waffenplatz
Bure eine entsprechende Ausbildung absolviert. Als der Panzer ihn zu
überrollen droht, springt Heiri hoch und drückt ab. Er schiesst eine
volle Ladung Tränengas in den Kanoneneingang. Dann fixiert er eine
Luftklappe des Panzers und schiesst ein erneutes Geschoss ab. Wenig
später öffnet sich der Panzer. Drei Polizisten rennen voller Panik um
ihr Leben. Als Erstes kriegen sie eine Tracht Prügel von den
aufgebrachten Demonstranten, die dem Panzer in die Gasse gefolgt
sind. Dann fährt die Ambulanz vor und Heiri denkt: alles halb so
schlimm. Sie werden sie schon nicht lynchen.

Plötzlich ist alles einfach. Die Besatzung eines anderen Panzers, der
von der Gegenseite heranrollt, flüchtet freiwillig, als Heiri mit dem
Tränengasgewehr auf sie zielt. Heiri schlüpft durch die offen stehende
Luke. Dann mal los, sagt er sich, bedient einige Knöpfe, stellt ein, was
eingestellt werden muss und steuert den Panzer durch eine Seitengasse
auf den Taksim-Platz. Als Erstes rast er in hohem Tempo auf einen
anderen Panzer zu. Noch ehe sein Pflug ihn erwischt und zur Seite
bugsiert, macht sich auch seine Besatzung davon, mit dem Resultat,
dass auf der Strasse wieder Polizisten verprügelt werden und die
Ambulanz vorfährt.

Die Masse schreit vor Entzücken. Etwas Elektrisierendes liegt plötzlich
über Istanbul. Die Leute jubeln und hüpfen wie an einem Popkonzert
vor der Bühne. Mit dem einzigen Unterschied, dass sie inzwischen
selbst zur Bühne geworden sind. Ohrenbetäubend laut werden Parolen
skandiert und Atatürk-Fahnen geschwungen. Als sich Heiri weitere
Panzer nähern und signalisieren, den Kampf aufzunehmen, drückt er
das Gaspedal durch und fixiert sie. Dann spritzt er den ganzen
Wassertank leer. Er springt durch die Luke und verschwindet dort, wo
er die Frau in Sicherheit gebracht hat. Der Lärm, als die Panzer
ineinanderkrachen, ist ohrenbetäubend. Er erstickt selbst die
Siegesgesänge der Demonstranten.

*

Ist denn der Tag plötzlich Nacht, weil alles wie nichts in allem und
nichts ist? Gibt es keine Nacht, weil ständig irgendwelche Lampen
brennen? Oder gehört nicht eben künstliches Licht zu einer Nacht? So
wie der Tag Nacht ist, weil vieles im Dunkeln liegt? Ein Hauch von
Leben ist selbst im Tod, denkt Heiri. Dann wird es dunkel und er spürt
ein Pieksen, einen kleinen Stich. Dann ist definitiv alle so gut wie nichts.
ER zieht die Rasierklinge aus einem kleinen Frischhaltebeutel und
stellt sie in ein Glas, das voller Flecken ist. Der dünne Wandschrank an
der nassen Betonmauer ist rostig. Er öffnet ihn, entnimmt ihm eine
Schere. Dann schneidet er ihr als Erstes die Haare. Später holt er Seife
aus der obersten Schublade eines kleinen Möbels, das schon in seiner
Kindheit in seinem Zimmer stand und reibt den Kopf mit dem
Seifenwasser ein. Er rasiert ihn vorsichtig. Zärtlich streicht er über den
Kopf der Frau. Würde sie jetzt die Augen öffnen, sie würde nichts sehen,
denkt ER. Sie würde nicht begreifen, was ihr geschieht. Ist hier noch ein
Rest Schminke? Er nimmt eine Lupe hervor, ärgert sich über sich selbst
und wäscht der Frau erneut das Gesicht.

2.
Istanbul erwacht wolkenverhangen. Über der Stadt liegt Regen. Die
Kuppeln der Moscheen sind endlich dort angelangt, wo sie hin wollten –
im Himmel. Vielleicht haben sie sich einen freundlicheren Empfang
gewünscht. Vielleicht gehört es zum Paradies, dass es nicht gleich von
Anfang an seine ganze Schönheit preisgibt, denkt Heiri.

Das Bett ist warm und es riecht frisch. Die Frau neben ihm schlummert.
Fatma hat ihren Kopf auf seine Brust gelegt und die Beine angewinkelt.
Sie liegen schräg über seinem Bauch. Sie wirken wie ein Schlussstrich,
der etwas zu üppig geraten ist. Heiri ist erregt, aber er ist auch hungrig.
Er denkt nach und kommt zum Schluss, dass es besser ist zu essen.

Der Himmel hat die Moscheen zurückgewiesen. Er hat sich erhoben.
Zwischen den Kuppen und den ersten Wolken liegt jetzt wieder ein
blassblaues Band. „Sag nichts“, flüstert Heiri. Die Zeitungen werden den
Rest erzählen. Fatma nickt. Ihre Occupy-Maske liegt unbeachtet auf
dem Holzboden der Wohnung. Eine kleine Terrasse führt direkt zum
Bosporus. Auf der anderen Seite ist der Taksim-Platz. Noch immer
hocken Rauchpinsel auf ihm, als gäbe es keine Ruhe mehr in diesem
Land, bis sich etwas Wesentliches geändert hat und das Leben in die
Verantwortung jedes Einzelnen zurückgekehrt ist.

Die Wolken verdichten sich. Sie werden dunkler und bleiben wie eine
Glucker auf ihren Kücken sitzen. Der Freiheitskampf ist schrecklich. Er
ist schmerzhaft und er führt immer in eine Niederlage, denkt Heiri.
„Wenn das nur mal gut geht“, sagt Heiri und die Frau nickt. „Aber in
einem hast du unrecht: Jede Niederlage, jeder Schmerz ist ein Sieg
mehr auf dem Weg in die Gerechtigkeit.“

Heiri küsst sie. Er streicht ihr durchs Haar. Er fährt mit seiner rechten
Hand zwischen ihren Brüsten bis auf ihren Bauch. Dann ruht seine
Hand und sie sagt ganz einfach: „Danke“. Sie legt ihren Körper auf
seinen und dann verschmelzen sie, ohne dass sie wissen wollen, wer in
wen eingedrungen ist. Sie fühlen sich eins und vergessen die Zeit um
sich. Als Heiri wieder erwacht, riecht es verführerisch in der Küche.
Wollte ich eigentlich nicht schon früher essen?, fragt er sich, ehe er
schmunzeln muss. Er schaut auf die Uhr. Noch bleibt Zeit, denkt er. Ich
werde sie zu nutzen wissen.

Der 8. Kreuzzug - Ein Studer-Heiri-Buch
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